INTO THIN AIR

Die Erstbefahrung vom Monte Vioz 3,645m und Monte Cevedale 3,769 m

In dünner Luft - Hochalpin mit dem Mountainbike
BIKE Magazin 12/2011 I Autor Harald Philipp

© Sebastian Doerk I infinitetrails

© Sebastian Doerk I infinitetrails

Monte Vioz Hütte, 3.500m. Am Nebentisch sitzen zwei richtige Bergsteiger. Sie haben ihre Steigeisen, Eispickel und Klettergurte im Vorraum abgelegt, sehen aber immer noch aus wie das verkörperte Abenteuer. Und sie riechen auch so. Mit silbern leuchtenden Augen, tief vergraben in Falten aus sonnengegerbter Lederhaut schaut mich einer an: „Seids ihr die mit den Radln?“ Die Antwort interessiert auch den Hüttenwirt, der unauffällig in unsere Richtung lauscht. Auch er ist ein halber Yeti, der in den letzten Jahrzehnten alles gesehen hat, was es am Berg zu sehen gibt. Er hat seine Hütte nach Eisstürmen ausgegraben und Menschen aus Gletscherspalten gezogen - aber Mountainbiker am Monte Vioz - das hat er noch nicht gesehen. Meine Antwort kommt zögerlich. Ich hoffe, dass keiner gesehen hat, wie ich beim Treppenaufstieg zum Essensraum wegen der dünnen Luft eine Pause einlegen musste. „Ja.“

Schweigen. Durch die kleinen Fenster sieht man Nebelfetzen und Schneeflocken vorbeirasen und der Wind heult. An den dicken Wänden hängen ölgemalte Portraits von verwegenen Erstbesteigern und Gipfelpionieren. Auch sie scheinen uns anzustarren. „Und die tragt’s dann wieder runter, oder wie?“ will der Wirt wissen. Martin klärt ihn auf: „Wir suchen die höchsten fahrbaren Gipfel rund um den Ortler. Wir tragen unsere Bikes hoch, und fahren wieder runter. Heute waren wir am Monte Vioz Gipfel und als nächstes schauen wir uns an, was auf der Nordseite des Ortlers mit Fahrrädern möglich ist.“ Das Eis ist gebrochen. Die Bergsteiger setzten sich an unseren Tisch und der Wirt bringt eine Flasche von seinem besten Zirbenschnaps.

Rund um den Ortler ist das Mountainbike eigentlich kein unbekanntes Sportgerät. Vom Stilfser Joch im Norden, über Bormio und die Region Alta Rezzia im Westen, Val di Sole im Süden über das Rabbijoch zum Vinschgau im Westen – alles Bikerland. Nur mitten drin, der fette vergletscherte Gebirgsstock scheint für Biker unüberwindbar und ausschließlich Alpinisten ohne Fahrzeug vorbehalten. Doch wir wollen dieses mal nicht an den Gipfeln vorbei fahren, wir wollen oben rauf. Austesten, wie viel Bergsport im Bikesport steckt.

Am nächsten morgen hat sich eine dünne Eisschicht auf unsere Räder gelegt. Der Wind bläst immer noch mit eisiger Kälte, die Finger werden klamm und alle Bewegungen langsam, bis auf das Zittern. Als Schlaf kann man das von letzter Nacht auch nicht bezeichnen. Nachdem wir die beiden Bergsteiger beim Schnaps als Freunde gewonnen hatten, lernten wir sie als schnarchende Nachbarn im Matratzenlager wieder hassen. So dauert es einige Zeit, bis wir mit der Vioz Abfahrt warm werden. Der gesamte Berg ist ein Schutthaufen aus riesigen, rostigen Felsbrocken, teilweise haushoch und trotzdem wackelig. Mit unglaublichem Aufwand wurde hier im ersten Weltkrieg ein stufiger Pfad angelegt, der uns alles an Fahrgeschick abfordert. Das Hinterrad mehr in der Luft als am Boden und mit ständigem Anschrammen am bissigen Gestein tüfteln wir uns abwärts. Volle Konzentration im ständigen Zickzack, vorbei an Abgründen, deren Tiefen wir nicht näher ergründen wollen. Ja, genau das haben wir gesucht!

Die Luft schmeckt immer dicker, je näher wir dem Tal kommen, nur die Abfahrt will einfach nicht flüssiger werden.

„Flow gibt’s hier schon, den musst du nur selber mitbringen!“ ziehe ich Martin auf, der heute etwas mehr mit dem Steig zu kämpfen hat als ich. Normalerweise fährt er mir um die Ohren. Martin ist ein Bergindianer. In ganz Tirol gibt es niemanden, der das Bergradln mehr liebt und lebt als er. Die häufigste Diskussion, die ich mit ihm führe geht darum, wer vorne fährt: „Fahr du, heute mache ich gemütlich.“ „Nein du, ich bin echt nicht fit.“ „Okay, aber du meldest dich wenn ich dir zu langsam fahre....“ und so weiter. Wettkampf kennen wir nicht, wir fahren miteinander statt gegeneinander. Gegenseitiges Vertrauen ist eine Notwendigkeit, wenn man in einem Gelände Fahrrad fährt, wo man kaum stürzen, aber sehr schnell abstürzen kann. Bei Bergsteigern nennt man das Seilpartnerschaft.

© Sebastian Doerk I infinitetrails

© Sebastian Doerk I infinitetrails

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Ganz anders als der Süden zeigt sich uns die Nordseite der Ortlergruppe einige Tage später. Die Nacht am Stilfser Joch ist so mild, dass wir unser Geld für die Hüttenübernachtung sparen und unter freiem Himmel schlafen. Nebelfetzen ziehen langsam vom Tal aus hoch und spielen mit den Steilwänden. Inzwischen gut akklimatisiert, schlafen wir tief und fest und träumen von noch höheren Gipfeln, während sich das Mondlicht auf den Gletscherflanken spiegelt. Bevor das erste Motorrad die steile Passstraße erklimmt, haben wir den ersten Espresso bereits getrunken und gleiten im frühen Morgenlicht über den Goldseetrail talwärts. Ein Traum von Weg und einer der wenigen Teile unserer Tour, den wir hier zum Nachfahren empfehlen können. Bedingt empfehlenswert ist es jedoch, sein Auto am Stilfser Joch zu parken, und sich auf das eigene Geschick beim Anhalter-Shutteln zu verlassen. Unter der Woche findet sich kaum ein Rentner, der mich dreckigen Radfahrer in seinem blitzeblanken Mercedes mitnehmen will. Aber dafür hat Martin viel Zeit, sich mit dem Imbisstandinhaber Würstl-Ernst anzufreunden, der sich als wahres Traillexikon entpuppt. Von ihm bekommen wir einen wirklich lohnenden Abfahrtstipp von der Payerhütte, vielen Dank Ernst!

Das Gestein hier auf der Nordseite ist auch richtig sympathisch, metamorpher Dolomit ist ein Reifenschmeichler. Schön rutschig wo es Spaß macht, und trotzdem griffig wo es hilfreich ist. Gerne würden wir noch länger bleiben und alle Trails hier erfahren, aber unsere Ortlermission geht weiter ins Zentrum des Gebirgsstocks. Mit der Schöntaufspitze und der Suldenspitze nehmen wir zwei schnelle Dreitausender am Wegesrand mit, bevor wir zum Sonnenaufgang an der Cassati Hütte ankommen. Vor uns wächst die 3.778m hohe Eispyramide des Monte Cevedale in den Himmel. Der dritthöchste Gipfel der Ortlergruppe, und Höhepunkt unseres Abenteuers.

© Sebastian Doerk I infinitetrails

Doch der nächtliche Regen hat eine spiegelglatte Eisschicht auf den Gletscher gelegt. Damit haben wir nicht gerechnet. Seit zwei Jahren haben wir den Berg im Visier. Monatelang haben wir über allen erhältlichen Karten gebrütet, Bergführer ausgefragt und Besteigungsberichte gelesen. Kann man am Gletscher Biken? Werden die Spalten offen liegen oder bleiben sie ein unkalkulierbares Risiko? Brauchen wir Gletscherausrüstung und Spikereifen? Ein Radlötzi, der in 2.000 Jahren Wissenschaftler vor große Rätsel stellt mit seinem seltsamen Gletscherfahrzeug, will keiner von uns werden. Steigeisen, Seil und Klettergurt haben wir zwar eingepackt, aber doch im Auto gelassen. Radfahren an der Leine lässt sich schlecht mit Fahrfluss kombinieren. Es muss ohne gehen, oder es geht nicht. Umkehren und zu akzeptieren, dass es nicht sein soll, ist eine der wichtigsten alpinen Entscheidungen, egal wie sehr man es will. Und jetzt schaut es ganz danach aus.

Erstmal einen Kaffe trinken.

© Sebastian Doerk I infinitetrails

Die Morgensonne gewinnt an Kraft und die Eisschicht fängt an aufzutauen. Zwei Stunden später als geplant können wir schließlich doch auf den Gletscher starten. Keine Wurzeln und Steine liegen uns im Weg, und mit mäßiger Steigung windet sich die Pfadspur durch den aufgefirnten Schnee. Die Reifen haben auch ohne Spikes guten Grip, und wir können sogar bergauf viel fahren. Vom fahrtechnischen Anspruch her könnten wir auch im sauerländer Forst unterwegs sein, nur müssen wir hier Gletscherspalten ausweichen statt Randfichten. Bevor wir uns richtig freuen können, ziehen Wolken auf und nehmen uns komplett die Sicht. Unsere eigenen Spuren sind noch erkennbar, aber vor uns: nix. Wo geht der Weg weiter? Weiß in weiß, keine Zeichen, keine Anhaltspunkte. Nicht gut. Abbrechen und umkehren, alles andere ist keine Option.

© Sebastian Doerk I infinitetrails

Ich bin schon halb am Rückweg, habe mich damit abgefunden, dass der Cevedale einfach kein Bikegipfel ist, da ruft Martin: „Hier, hier, ich habe die Spur!“ Der Berg macht es wirklich spannend. Das Spiel wiederholt sich einige male, und im hin und her zwischen Resignation und Hoffnung gewinnen wir an Höhe, ohne es zu merken. Plötzlich reist die Wolkendecke auf. Genauso schnell wie wir eingenebelt waren, stehen wir jetzt in der Sonne. Direkt vor uns ist der Gipfel! Euphorie lässt uns die letzten Meter im Laufschritt gehen. Oben. Wir stehen über den Wolken und den Dingen. Unser höchster Bikegipfel, unser Höhepunkt. Wir genießen den Moment, atmen die dünne Luft und die Zufriedenheit tief ein.

Zwei bleiche Touristen mit Atemnot werden von ihrem Bergführer zu uns auf den Gipfel gezogen. Überrascht mustern sie erst unsere Bikes und dann uns. Nach sieben Tagen im Hochgebirge sehen wir aus wie das verkörperte Abenteuer. Und wir riechen auch so. Hinter tiefen Lachfalten aus sonnengegerbter Lederhaut verbergen sich unsere silbern leuchtenden Augen. Nur zögerlich trauen sie sich, uns anzusprechen: „Wow, richtige Fahrradbergsteiger.“

© Sebastian Doerk I infinitetrails