Am richtigen Ort. Zur richtigen Zeit?

Antizyklisch. Die Frage ist nicht "wo kann man Biken", sondern wann.
BIKE Magazin 08/2012 I Autor Harald Philipp

Wie eine perfekte Welle fließt der Weg über den Gipfelgrat. Flüssige Kurven, kleine Absprungfelsen und runde Landungen. Der erdige Trail wurde von tausenden Wandererfüßen festgetreten und sieht aus wie ein Pumptrack mit Bergpanorama. Halleluja, das Paradies für Biker? Nicht ganz, denn leider sind die tausend Wandererfüße genau in diesem Moment hier unterwegs. Die schönsten Berge der Alpen sind meist nicht die einsamsten. Den Lift, der Biker nicht mitnimmt, statt dessen aber unsportliche Bergfreunde bis kurz unter den Gipfel befördert, habe ich bei der Planung wohl übersehen.

Mountainbiker und Wanderer sind schon lange keine Erzfeinde mehr. Auf der Suche nach Erholung in der Natur und schönen Aussichten sind Bergfreunde mit- und ohne Bike gleich. Gegenseitiger Respekt, freundliche Worte und Anhalten in der Abfahrt sind Selbstverständlichkeiten. Dennoch wollen wir mit den Bikes bergab mehr als nur unsere Knie schonen. Mit etwas mehr Tempo als zu Fuss spürt man den Rhythmus des Weges, erlebt Flow und Nervenkitzel. Genau das wird schwierig, wenn man nach fünf Fahrmetern wieder absteigt für einen freundlichen Smalltalk über das Wetter. An Abfahrtsspaß ist hier nicht zu denken. Oder besser gesagt, an Abfahrtsspaß ist jetzt nicht zu denken.

Markus ruft an. Sein VW Bus ist älter als ich und hat Motorprobleme, mal wieder. Er wird frühestens in zwei Stunden starten können, muss dann erst noch Rob abholen und gute zwei Stunden zum Startpunkt unserer Tour fahren. „Passt, lass dir Zeit!“ Heute habe ich keinen Grund zum Ärgern. Mit rund acht Stunden Verspätung sollte die Tour perfekt funktionieren. Die Brotzeit wird später zum Abendessen vor dem Tourstart und auf der Berghütte gibt es eine Übernachtung im Matratzenlager statt Mittagspause. Zufrieden lege ich mich in die Sonne und lese das Buch, dass ich immer dabei habe, wenn ich mich mit Markus verabrede. Mit der gewünschten Verspätung kommen meine Münchener Bikefreunde an. Zeitgleich mit der letzten Talfahrt der Seilbahn. Der Parkplatz leert sich, und es wird schlagartig ruhig auf dem Berg.

Wir hören deutlich wie die Liftanlage ausschaltet, danach nur noch Stille.

Auch unsere Augen sind nicht mehr abgelenkt von den vielen Eindrücken. Alles, was sich jetzt noch bewegt, ist deutlich sichtbar. Die Steinböcke am Gegenhang beobachten uns genauso fasziniert wie wir sie. In den steilen Felswänden des Karwendels fühle auch ich mich zu Hause. In der Gebirgskette nördlich von Innsbruck kenne ich jede Steilstufe und Spitzkehre und haben jeden Gipfel zumindest probiert zu fahren.

Während die Sonne immer tiefer sinkt, beginnen wir unseren Uphill. Erst Fahren, dann Schieben, dann Tragen. Rob ist Profi-Freerider. Auf einer hochalpinen Tour waren wir noch nie zusammen unterwegs. Das Hinterradversetzen in Spitzkehren sollte kein Problem sein für jemanden, der sich in alle Richtungen über Sprünge rotiert. Doch Rob ist sogar beim Tragen des Bikes fit, ich bin beeindruckt. Fasziniert von der Stille tragen wir unsere Bikes auf den Gipfel zu. Kurz bleiben wir stehen und beobachten den Sonnenuntergang. Kein Geräusch stört die Ruhe, außer unserer Schritte auf dem Kies. Wir reden nur wenig und mit leiserer Stimme als normal. Der Weg wir immer steiler, führt über Eisenleitern und Klettersektionen, bis wir den Gipfel erreichen. Einige wenige Gletschergipfel am Alpenhauptkamm haben noch eine sonnige Spitze, dann wird es auch ganz oben dunkel. Links von uns ist es schon völlig finster, im verlassenen Gleirschtal gibt es keine einzige unnatürliche Lichtquelle. Die ersten Sterne beginnen zu leuchten und vom Tal funkeln die Straßenbeleuchtungen hoch zu uns. Das Dorf wirkt unendlich weit weg.

In die Abfahrt zu starten, während der Tag endet, fühlt sich irgendwie seltsam an. Zum Glück funktionieren unsere Lampen in milden Sommernächten genauso verlässlich wie im dunklen Herbst. Im hellen Lichtkegel wirkt die Steig vom Gipfel noch anspruchsvoller als tagsüber. Aber dafür sieht man den Abgrund nicht. Auch die Geschwindigkeit fühlt sich anders an als bei Tageslicht, wenn man mit wortwörtlichem Tunnelblick fährt. Während wir schon seit unserem Tourstart in einer anderen Welt unterwegs waren, bewegen wir uns nun durch ein anderes Universum. Zwei Lichtjahre später erreichen wir die Berghütte und rasen durchs Wurmloch zurück in die Realität. Überrascht begrüßt uns die Hüttenwirtin. Während sie tagsüber Kaiserschmarrn in  Massenabfertigung kocht, ist ihre Hütte abends ein einsamer Ort. Sie freut sich über unsere Gesellschaft und wir bekommen sogar noch einen Mitternachtssnack zum Begrüßungsschnaps.

Geweckt werden wir von den ersten Sonnenstrahlen. Markus ist direkt voll motiviert das fantastische Morgenlicht auf Foto einzufangen, während mein Körper lieber noch den Schnaps von gestern abbauen möchte. Das Tal und mein Geist sind noch vernebelt, aber die Trails warten. Frischer Morgentau macht alle Steine und Wurzeln zu Herausforderung. Kalter Wind und die kurze Nacht machen es umso spannender. Zeit zum aufwachen! Mit viel Spaß rutschen wir in den neuen Tag. Früh wach sind auch die Alpendohlen, die in dieser Region eigentlich bekannt sind für ihre Zahmheit. Gänzlich ohne Scheu vor Menschen fressen sie aus der Hand oder klauen ein Stück vom Kaiserschmarrn, wenn man grad nicht hinschaut. Doch heute früh haben sie frei, nutzen die morgentlichen Aufwinde um die Hänge abzugleiten. Sie wissen ganz genau, ab mittag ist wieder Bettelzeit.

Beim Brunch verabschieden wir uns von der Hüttenwirtin. Aus der Ferne hört man schon leise das Brummen der Seilbahn. Es wird Zeit. Die schnelle Abfahrt genießen wir ohne einmal anzuhalten. Markus zeigt uns, dass man auch mit bleischwerem Fotorucksack Gas geben kann und Rob inspiriert mich zu neuen Tricks in bekanntem Gelände. Lachend fliegen wir durch den Waldtrail, bis er uns schlagartig am Liftparkplatz ausspuckt. Elf Uhr früh. Ein kleiner Kulturschock. Hunderte Autos suchen gleichzeitig einen Parkplatz und vollbepackte Gondeln schaufeln wieder Menschenmassen auf den Gipfel. Dort, wo wir gestern die Stille hören durften, ist nun wieder Lärm. Der perfekte Trail gehört wieder den tausenden Wandererfüssen. Die Alpendohlen fliegen wieder auf Bettelkurs, und die freundliche Hüttenwirtin schuftet wieder in der Küche.
 
„Zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ ist eine Redewendung, die oft verwendet wird, wenn man von zufälligem Glück spricht. Aber manchmal kann man sein Glück auch planen.


Tourplanungs-Tetris mit Mathias Marschner
Transalp Guide und Ausbildungsleiter im DIMB/BDR Bundeslehrteam

Wie gehst Du als Guide mit stark frequentierten Wanderwegen um?

Bei der Planung einer Strecke muss ich zuerst heraus finden, wo mögliche Hotspots sind. Kritisch ist es z.B. überall dort, wo Seilbahnen hochfahren oder beliebte Hütten, Cafes oder Panoramawege die Massen anziehen. Da informiere ich mich vorab über die Betriebszeiten. Ich plane meine Tour dann danach, wann die schönsten Trails möglich sind. Das ist oft nicht einfach und erfordert viel Flexibilität. Tourplanungs-Tetris! Um die Zeit zu überbrücken bis die letzte Gondel im Tal ist, kann man zum Beispiel ein Picknick einbauen. Oder eine Hüttenübernachtung um den Trail am nächsten Morgen zu fahren. Ein Paradebeispiel ist der Bindelweg in den Dolomiten. Mittags ist dieser Trail ein absolutes No-Go, während man abends auf dem freien Weg in den dramatisch schönen Sonnenuntergang fährt.

Inwiefern ist die Legalität von Trails ein Thema für Dich?

Das muss man extrem differenziert betrachten. Insbesondere bei Transalp Strecken kommt man durch zig verschiedene Länder, unterschiedliche Regionen und fährt oft auch auf Privatgrundstücken. Da bestehen jeweils eigene Gesetze und Regeln. Es macht auch einen Unterschied, ob man auf einer privaten Tour unterwegs ist, oder eine Route als Guide kommerziell anbietet. Jedenfalls gibt auf der einen Seite ganz viel Gesetze, Papier und Theorie, während es auf der anderen Seite oft unmöglich bleibt, zwischen schwarz und weiß zu unterscheiden. In der Realität braucht es ganz viel Fingerspitzengefühl.

Wie verhalte ich mich auf kritischen Wegen?

Wichtig ist, von Anfang an rücksichtsvoll zu agieren. Da spielt der Begegnungsverkehr eine Rolle, aber auch das Wetter und das Gelände. Man muss sich ständig überlegen, wie man sich umsichtig und mit Weitblick bewegen kann. Die DIMB-Trailrules sollte jeder gedanklich im Rucksack haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es heutzutage nur noch selten Konflikte gibt. Abgesehen von wenigen schwarzen Schafen, die es auf allen Seiten gibt. Mit dem Bike, mit dem Pferd oder zu Fuss. Wenn man sich Rücksichtsvoll verhält kann man sich als Biker eigentlich ziemlich frei bewegen.

Welche Tipps kannst Du unseren Lesern zur Tourplanung geben?

Ich empfehle vor allem Kontakt zu den lokalen Bikern und Guides. Von ihnen erfährt man nicht nur, wie gerade die Stimmungslage in der Region ist und wo Probleme zu erwarten sind, sie haben garantiert auch die besten Tipps zu Trails und Einkehr. Oft ist es auch hilfreich, sich vorab bei den Tourismusverbänden zu informieren, beispielsweise ob Großveranstaltungen geplant sind. Eine Marathonveranstaltung auf dem selben Weg wie die geplante Biketour ist dem Fahrspaß bestimmt nicht zuträglich. Und am Ende: Meidet den Mainstream und plant a-zyklisch! In jeglicher Hinsicht. Vielgenutzte Klassiker verwandeln sich am Wochenende zu Massenveranstaltungen. Dabei gibt es so viel Schönes zu entdecken, weniger bekannte Wege oder Regionen. Schlaft aus wenn andere starten und seit auf dem Trail, wenn alle schlafen  -  oder arbeiten. Ein Luxus wenn man sich dies einrichten kann.